Gier - Crave - Manque
Der englische Originaltitel des Stückes lautet "Crave" (frz. "Manque"). Ein Wort, das in mehreren Bedeutungen übersetzbar ist. "Crave" kann heissen Gier, Verlangen, Begehren - Sehnsüchte also, die ganz unterschiedliche Färbung annehmen können. Sehnsüchte von Menschen, die in einer Welt leben, in der klar definierte praktische, ethische wie religiöse Werte und Ideologien verschwimmen und ihren zentralen Platz im Dasein verlieren.
Die Figuren des Stücks A, B, C und M erzählen von dieser Empfindung. Klassische Dialoge gibt es nicht. A, B, C und M erzählen eine Geschichte. Vielleicht erzählen sie die identische Geschichte, sie tun es jedoch nicht in der gewohnten Form. Sie reden nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. Sie stellen Fragen, die nicht beantwortet werden können. Sie geben Antwort auf Fragen, die nicht hörbar sind. Sie sprechen zum Publikum, zu sich, zu jemandem von draussen. Ein gigantischer Monolog der Einsamkeit von Gespenstern aus der Vergangenheit, vielleicht auch von Spukgestalten aus der Zukunft. Was sie äussern, ist Verzweiflung. Und das Verlangen nach Vernichtung.
Der erste Satz schon nennt das Thema:"Du bist tot für mich", sagt C. Wenig später fragt A, wen auch immer, sich, oder jemand anderen: "Was willst du?" - und B antwortet stellvertretend für alle: "Sterben". Für uns ist "Crave" ein Requiem ein memento mori. Denn immer wieder verweist die Autorin, vor allem in den kurzen Zitaten aus dem Vaterunser oder überhaupt aus der Bibel, auf das Ende, das ( vielleicht ) die Erlösung von den Übeln wird. "Jetzt da ich dich gefunden habe, kann ich aufhören nach mir selbst zu suchen" sagt B und er meint damit gewiss keinen Menschenfund sondern den Tod, den er duzt. Die vier Personen haben ihre Identität eingebüsst. Wenn sie trotzdem noch ich sagen, ist es Täuschung und Selbstbetrug. Bloss noch Bruchstücke von Leben geben die vier von sich: Erinnerung an Schmerzen, die Sehnsucht nach Gewalt, nach Vernichtung, nach Liebe. Dieses grosse Stück ist das Werk einer Verzweifelten über die Verzweiflung und die Hoffnung, dass Gott, der für tot erklärt wurde, vielleicht doch noch lebe. Wider alle Erwartung, wider alle Vernunft, wider alle Wahrscheinlichkeit. Zudem aber - und das macht dieses Drama zu einem eindrucksvoll geschlossenen - findet Sarah Kane eine Form für ihre Gedanken: Sie hat ein Gedicht geschrieben für das Theater, Lyrik für die Bühne in der die Sprache für einen Augenblick Erleichterung verschafft und Schönheit hervorbringt im Sehnen nach der letzten, einzigen Erlösung, dem Tod.
Deswegen ist für uns eine Kirche der Ort, wo man Sarah Kane's Stück aufführen sollte: Als Oratorium mit einem Minimum an theatralischen Mitteln. Das Berner Münster mit seiner Grösse kann am besten die Verlorenheit und Hilflosigkeit von vier Menschen gegenüber den letzten Fragen bieten und ist gleichzeitig für den Betrachter ein Ort der Kraft und der Besinnung, für das Schwere und Leidvolle das in diesem Stück, in diesen bohrenden Fragen liegt.
Michael Oberer
Christian Probst
Oktober 2001